In kindlichem, klirrendem Übermut rufen sie meinen Namen: „7010! Genug gearbeitet für heute!” Sie rennen aus Halle 9, alle in der gleichen Kleidung, schmal und leichtfüßig, alle gleich, alle wie ich. Ihre Stimmen sind hell, aber ich weiß, dass ihnen allen dunkel bewusst ist, wie wenig Zeit sie haben, um so ausgelassen zu laufen und zu rufen. Sie haben nichts von der gelangweilten Arroganz echter Kinder, für die mit der größten Selbstverständlichkeit alles möglich ist, weil ihre Lebenszeit ihnen so unermesslich lang erscheint. Unsere Spezies kann sich keine echte Kindheit mehr leisten. Die Kürze der Zeit ist der Grundkonsens unserer Zivilisation. Sie ist das verbindende Element, das unserer Gesellschaft Ziel und Richtung gibt. Die Schreie meiner Kolleg:innen sind eine Nachahmung von Kinderspielen, ironisch gebrochen, aber dennoch gebrochen. Ein tausendfach zurückgeworfenes Echo, das seinem Ursprung nicht fremder sein könnte. Ferne, so weit das Ohr reicht. Ich glaube, sie spüren alle den gleichen zerklüfteten schwarzen Abgrund wie ich, wenn sie die ihnen zugemessene Zeit einmal mit einem ruhigen Gedanken prüfen. Seltsam, wie manche Klangfolgen gleichzeitig eine Sache und ihr Gegenteil bedeuten können, Unbeschwertheit und Bedrohung. Bei uns hat selbst das Feierabendlachen von Fabrikarbeiterinnen diese Zwiespältigkeit, diese Tiefe.
Manchmal denke ich an all das fremde Leben dort draußen in sicherem Abstand zu dem allverschlingenden Zentrum unserer Galaxie, an den unfassbaren Luxus unbegrenzter Zeit, den sie haben. Vielleicht sind auch sie existentiellen Gefahren ausgesetzt, sicherlich verlieren manche gerade jetzt ihre Lebensgrundlage. Aber in der unmittelbaren Umgebung unserer Umlaufbahn ist niemand, das haben unsere Wissenschaftler:innen bestätigt. Alle anderen Zivilisationen in unserer Galaxie können fortbestehen, noch Äonen lang. Natürlich sind sie Umweltzwängen ausgesetzt, aber sie haben so viel Zeit, sie zu überwinden. Wenn sie scheitern, dann aus eigener Verantwortung und nicht, weil eine allgewaltige Naturkraft sie mit Leichtigkeit überwältigt. Wobei natürlich auch wir letztendlich für unsere Position im Universum verantwortlich sind, aber wir haben sie gewählt, lange bevor wir die Mittel hatten, um die Konsequenzen unserer Wahl zu ermessen. Ist das fair? Das frage ich mich manchmal, aber ich weiß, dass es darauf nicht ankommt. Ob es Schicksal oder Entscheidung ist, maßgeblich ist unsere vereinte Anstrengung zur Rettung unserer Zivilisation. Keine andere Spezies kennt die Zwänge, unter denen wir stehen, aber auch keine hat (soweit wir wissen) unsere Planungskunst, unsere Disziplin, unsere Einigkeit. Sie brauchen keinen Großen Plan; wir brauchen ihn so sehr, dass wir darin aufgehen. Wenn es etwas wie eine kosmische Gerechtigkeit gibt, dann denke ich ist das der Lohn für unsere Mühe. Nach allem, was ich von unseren philosophischen Texten verstehe, ist auch das Konsens: Die Überwindung der existenziellen, einzigartigen Gefahr, die uns allein bedroht, ist unser Schicksal, aber auch unsere Identität. Wir allein kämpfen gegen die Gravitation von Saggitarius 483. Das macht unsere Zivilisation einzigartig, das zeichnet sie aus. Sie können sich entwickeln, wohin sie wollen, sie können wild wuchern, und was ihnen nicht gelingt, beruht auf ihren eigenen Versäumnissen, nicht auf unentrinnbarem Zeitablauf und Naturgesetzen. Sie haben Zeit, um Fehler zu machen und schließlich werden auch sie sich ihre Sackgasse bauen, sich in die ihnen zugeteilte Falle maneuvrieren. Wenn sie nicht früh genug lernen, zu planen, zu arbeiten, um etwas Überindividuelles zu erreichen, werden sie zwangsläufig untergehen. Und warum sollten sie lernen, wenn sie denken, dass sie in Sicherheit sind, wenn sie so viel Zeit haben, Fehler zu machen und sie zu bereinigen? Aber manche Fehler lassen sich nicht bereinigen und manche Pläne sind ihrerseits fehlerhaft oder kommen zu spät. Wer nie den Abgrund geschaut hat, heißt es in unseren Überlieferungen, der wird nie eine Brücke bauen. Das ist die überlegene Weisheit unserer Zivilisation, und das ist es, was uns jeden Tag wieder ruhig und sicher an die Arbeit gehen lässt, während wir uns langsam spiralförmig auf Saggitarius 483 zubewegen, wahrnehmbar nur für die Maschinen im verschlossenen Tempel der Wissenschaft, während wir alle mit großer, ehrlicher Konzentration die uns zugeteilten Aufgaben bearbeiten, so gut wir können, und in dem Bewusstsein, dass wir es müssen und es vielleicht trotzdem nicht gut genug sein wird. Unsere Fortpflanzungsquoten sind stabil. Unser Ausbildungssystem produziert die Arbeiter:innen, die wir brauchen, die Ingenieure, Astronominnen, Fabrikarbeiter. Unsere Zivilisation, ein intrikates Zusammenspiel aller Professionen, folgt jetzt und solange ich mich zurückerinnern kann, reibungslos dem Großen Plan, der konstant angepasst und verbessert wird. Wir wissen, wo unser Platz ist. Auch unsere Kinder werden es wissen, auch ihre Kinder. Im Tempel der Wissenschaft wird mit Hochdruck die Technologie entwickelt, die wir brauchen werden, um das Archschiff zu bauen, auf dem wir einst entkommen werden. Wir arbeiten gegen die Zeit, wie die Nachrichten auf unseren öffentlichen Bildschirmen uns jeden Abend erinnern: unsere Wissenschaft gegen die Anziehungskraft von Saggitarius 483, unsere Zusammenarbeit gegen die rohen kalten Kräfte des Universums. Wenn es ein kosmisches Gleichgewicht gibt, dann muss es Opfer geben, und wir opfern unsere Lebenszeit für die Zukunft unserer Zivilisation, für das Fortbestehen unserer Spezies. Wir tun es gerne; wir tun es für das Kollektiv, das größer ist als das Individuum.
Ich stelle mir oft vor (ich glaube, wir alle tun das), wie unsere fernen Nachkommen mit großer Bange und Wehmut, aber voller Stolz auf den ungeheuren kollektiven Kraftakt ihrer Vorfahren das glänzende Schiff betreten werden, der Keimsamen einer neuen Zivilisation, während ihr todgeweihter Heimatplanet immer noch kaum merkbar aber mit wachsender Beschleunigung auf Saggitarius 483 zurast.