Flohmarktfund

Neulich auf dem Flohmarkt: ich saß in einer Kiste und wühlte mich durch alte Landkarten, Notenblätter, Pflanzendrucke, Postkarten … Ich war gerade in eine besonders schwer zu entziffernde Ansichtskarte aus Marienbad vertieft, als mir ein gelbliches, kaffeefleckiges Blatt in einer Ecke auffiel. Ich weiß nicht, warum es mir auffiel. Vielleicht fand ich die spitze, unsichere Handschrift bemerkenswert, vielleicht war es auch der unbewusste Versuch, etwas möglichst Originelles zu Tage zu fördern. Jedenfalls ließ ich die restliche Marienbader Postkarte sein und begann, den Zettel aus seiner Ecke zu bergen. Zuerst zerrte ich daran, aber alles, was ich erreichte, war, einige Kupferstiche von Runkelrüben zu zerreißen. Als auch mein Zettel einen Riss bekam, änderte ich schnell die Taktik und versuchte, ihn freizuschaufeln. Ich glaube, ich erschreckte ein Pärchen, das sich plötzlich mit riesigen, insektoiden Sonnenbrillen über mich beugte, aber sicher nicht mehr als die beiden mich. Ich hielt kurz inne, für den Fall, dass die Insektoiden den Standinhaber holen oder die Weltherrschaft an sich reißen würden, aber als ich aus einiger Entfernung den rapiden rumänischen Redefluss des Standbetreibers hörte, machte ich beruhigt weiter. Das Papier, das sich über mir zu häufen begann, schützte mich vor der Sonne, aber bald hatte ich mich so weit in den Papierberg vorgearbeitet, dass ich meinen Zettel fast übersehen hätte. Rasch rollte ich ihn zusammen und kämpfte mich die Kistenwand hoch, schnell unter dem Stand durch, und außer Reichweite.
Als ich in meinem kühlen und sicheren Müllcontainer angekommen war, war ich leicht enttäuscht, folgendes Gedicht zu lesen. Ich finde es bestenfalls mittelmäßig, aber da es auch irgendwie erfrischend ist, dass ein Geburtstagsgedicht mal keine Erbauungs-Pseudo-Literatur ist, habe ich es hier für euch abgetippt:

Elise Josinovic

Geburtstagsgedicht (1964)

Ich weiß nicht mehr weiter, wenn man mir die Hände reicht
Es scheint, meine Weisheit hat hier ihr Ende erreicht
Meinem Keller ist kalt und die Wände sind bleich
Was ich kenne, verändert sich, nur das Fremde bleibt gleich.

Und wieder ein Tag, und wieder ein Tag vergangen …

Manchmal habe ich Sehnsucht nach früher
Selbst meine Trübsal war damals noch trüber*)
Und die Linden blühten grüner im Frühjahr
Dafür ist man im Nachhinein immer noch klüger.

Und wieder ein Jahr, und wieder ein Jahr vergangen …

Ich sah die Erde aus großer Distanz
Wollte fort zu neuem, kühleren Glanz,
Doch ich kam ihm nicht näher und ich verstand:
Die Welt folgte ruhig ihrer Umlaufbahn, ich aber stand.

Und wieder ein Jahr, und wieder ein Jahr vergangen.

*) Hätte man mich eher zur Welt gebracht,
dann hätte ich später mehr davon gehabt

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