Wohlgenährte Phantasie
„Ein Einhorn. Ich könnte ein Einhorn sein“, dachte der Zwerg. „Aber dazu fehlt mir das Regelbuch.“
„Alfredo, hast du dir immer noch keine Rasse ausgesucht? Kann doch nicht so schwer sein.“
Kara setzte ihre Ellenbogen betont ungeduldig auf den Stapel Bücher zwischen ihnen und warf ihm mit einer laxen Bewegung einen Würfel hin.
„Lass den Zufall entscheiden, wenn du’s nicht kannst. Regt die Fantasie an.“
Alfredo sah aus dem Fenster. Eine rote Vespa fuhr vorbei, die Fahrerin erinnerte ihn unerklärlicherweise an eine Ente. Foie gras. Oder machte man das aus Gänsen? Eine unangenehme Erinnerung bahnte sich ihren Weg nach oben. Ein Gasthaus in Zentralfrankreich, Alfredo war vielleicht sieben oder acht gewesen und noch keine 50 cm groß … er machte eine wischende Handbewegung, halb abwehrend, halb abwinkend. Dann, wie um den Moment der Geistesabwesenheit zu überspielen, trommelte er, in tadellosem Rhythmus, mit allen zwölf Fingern auf dem Fensterbrett herum.
„Okay, was auch immer“, seufzte Kara. „Das bringt uns aber nicht weiter.“ Und nach einer Pause: „Ich spiele ja einen Elfen.“
„Du bist auch eine Elfin“, erwiderte Alfredo und stopfte sich einen Muffin in den Mund.
„Na und? Ist dir das nicht kreativ genug?“
„Ich weiß nicht. Ich muss nachdenken. Ich brauche Zucker.“
„Alles klar. Ich geh eine rauchen.“
„Fair.“ Alfredo kratzte sich am Kopf. Verdammt.
„Well well well“, sagte Alfredo und drehte sich auf dem Absatz um, „lass uns Pizza holen!“
Kara murmelte etwas Zustimmendes, doch sie war schon mit etwas anderem beschäftigt. Mit was, konnte Alfredo nicht erkennen, denn er hatte sich ja umgedreht.
Eine leichte, tröpfelnde Enttäuschung überkam ihn. Wie damals in Frankreich … Aber er erlaubte sich nicht, den Gedanken zuende zu führen. Stattdessen dachte er an die Pizza, die er bestellen wollte, Artischocke für ihn, Peperoni und Oliven für Kara. Er kannte sie so gut, dachte er, und doch ist sie mir so fremd manchmal …
„Immerhin. Damit können wir ja schonmal was anfangen. Also ich meine, man kann darauf aufbauen.“ Karas Zuversicht wirkte zunehmend aufgesetzt, aber Alfredo war ihr dankbar dafür.
„Ja, klar.“ Er versuchte zu klingen, als hätte sie ihn erfolgreich mit ihrem Enthusiasmus angesteckt. Komischerweise wirkte es sogar ein wenig. Er musste an diese Doku denken, die er neulich gesehen hatte, über Leute, die sich zwingen, zu lachen. In so Therapiezentren. Kara stand auf. „Ich geh nochmal eine rauchen. Fang du schonmal an.“
Topform
Tom war in Topform. Ein letztes Mal wrang er den bunt gehäkelten Topflappen, dann schloss er die Augen und spürte dem Brennen in seinen Unterarmmuskeln nach, dem Glücksgefühl, das es auslöste. Hunderttausende Kleistpartikel von Glückshormonen, deren Namen er sich nie die Mühe gemacht hatte zu lernen, diffundierten durch sein Blut. Er stellte sie sich als kleine goldene Einzeller vor, mit feinen Ausläufern wie bei Pantoffeltierchen, auch wenn ihm vage bewusst war, dass sich die Hormonausschüttung auf einem anderen, molokulareren Level abspielte.
Doch genug! Tom wollte jetzt nicht länger darüber nachdenken. Er brauchte Frischluft. Er lief an einem See entlang. Es tat gut, seine durchtrainierten Schenkel in Aktion zu erleben. Er war doch immer noch der Beste. Nach drei Runden setzte er sich auf eine Bank am Rande des Sees und fütterte ein paar Enten. Er telefonierte mit seiner Mutter. Dann, als ihm langsam kalt wurde, beschloss er, es nicht länger hinauszuschieben. Es machte ihn gereizt, und das wollte er nicht sein. Er nahm den nächsten Bus und fuhr zu Doktor Hausers Praxis, um seine Diagnose entgegenzunehmen.
Missmutig schob Tom seinen windigen Einkaufswagen, vorbei an Reihe um Reihe von schreiend bunten Dosen, vakuumverpacktem Sauer- und Rotkraut, dazwischengeschalteten Sonderangebotstafeln. Er hasste Einkaufen, aber seine Mutter wurde allmählich zu alt dafür. Alzheimer im Anfangsstadium, hatte Dr. Hauser gesagt und ihm dabei wie immer nicht in die Augen geschaut sondern leicht links an seinem Kopf vorbei. Er müsse sich perspektivisch überlegen, wie es weitergehen sollte. Tom fand es eigenartig, dass sie Wörter wie „perspektivisch“ in einem normalen Satz verwendete (es war, als müsse ein solches Wort stets alleiniger Gegenstand seines Satzes sein), aber ihre Präsenz war ungemein beruhigend. „Whyyyyyyyyy … am I sitting in a tin can“, summte er, während er die von seiner Mutter präferierte Marke Dosenerbsen in seinen Gitterwagen schubste.
In dieser Nacht fand Tom keinen Schlaf.
Einen Monat später verließ er die Stadt und begab sich auf Wanderschaft. Endlich würde er den Nordpol im Frühling sehen. Und vielleicht könnte er dann alles vergessen. Die folgenden Jahre vergingen im Flug, eine einzige lange Flucht nach vorne. Tom traf Lyrta, Lyrta, die am Nordpol lebte, und ihre Hündin Ferjal. Es waren schöne, kalte Jahre, in denen Tom kaum trainierte. Jahre, in denen er fast hätte vergessen können … doch dann kam alles anders.
Später telefonierte er mit seiner Mutter. „Triffst du dich noch mit dieser Lyrta?“, fragte sie mit ihrer zärtlichen, wackligen Stimme, „die mit dem vorlauten Hund?“ Tom bejahte. „Ach“, seufzte seine Mutter. „So ein nettes Mädchen. Ich habe heute mit Dr. Hauser telefoniert. Sie kennt sie gut. Das arme Mädchen, mit so einer schlimmen Krankheit zu leben, das ist eine schwere Prüfung vom lieben Gott. Und trotzdem ist sie immer so freundlich, so sanft. Versprich mir, dass du gut auf sie acht gibst, Tom, ja? Bitte versprich mir das.“
Technochrone Verschiebungen – eine Anmerkung von Prof. Dr. Lamina al Saaed-Werfeld
Der Spekatkuläre Realismus ist eine eigenartige Strömung. Während manche Wissenschaftler*innen sich weigern, ihn als eigenständig anzuerkennen [Lamüser, Auf dem Holzweg, Annalen fiktiver Prosa 2020, 867 (878 et passim)] und gewisse namhafte Nachschlagewerke nicht nur ihn, sondern auch seine einflussreichsten Werke vollständig ignorieren [Arnold (Hrsg.), Kindlers Neues Literaturlexikon, 2001], feiern andere den losen Zusammenschluss wechselnder und größtenteils an- und pseudonymer Autor*innen als zukunftsweisende Stilprägung der an Zukunft vermeintlich so armen 2020er Jahre. Doch was macht den Spektakulären Realismus aus? Was rechtfertigt es, ihm eine eigene Stilrichtung (die selbstverständlich zwangsläufig Charakterzüge des Konstruierten trägt, vgl. Worycek/Baumgartner/Dahl, Die Kunst des Konstrukts: Lust und Trug von Konzepten, 3. Aufl. 2018) zuzuerkennen, anstatt ihn wie so viele von sich selbst oder in der Wissenschaft für existent erklärte Strömungen vor ihm (Junk-Naturalismus, Realviszeralismus, postvaskularer Realismus, Metamorphismus, experimentalliterarische Antisepsis) der verstaubten Schublade aufgegebener Ideen zu überantworten? In der Tat, die Blüten an diesen Stilen blühten nur einen kurzen Sommer, manche nicht einmal das, und noch zahlreichere, noch unbekanntere wagten es kaum, zaghaft ihre Knospen zu öffnen.
Die vielleicht einzige Möglichkeit, die Besonderheiten, ja die Einzigartigkeit des Spektakulären Realismus sinnvoll darzustellen, ist exemplarisch an einem Beispiel: das zunächst als Blogartikel veröffentlichte Werk „zwei Kurzgeschichten“ des Filialleiters und seines treuen Sidekicks rattus rattus. Die Schaffung dieses Textes folgte einer zufällig wirkenden und doch stringenten Methodik: zunächst wurde aus zwei spontan ausgewählten Büchern („Die 13⅛ Leben des Käptn Blaubär“ sowie „Mode für Hunde“ und aus irgendwelchen Gründen kann meine Tastatur viele Brüche und interessante Sonderzeichen aber nicht 1/2 ¤⅜£⅝~° frelling Einhalb) durch Blättern und Antippen mit geschlossenen Augen zufällige Themen ermittelt. Diese waren „Wohlgenährte Phantasie“ (Käptn Blaubär) und „Topform“ (Mode für Hunde). Sodann wurde ein Zeitlimit festgelegt: 5 Minuten. In dieser Zeitspanne sollte jede*r der Autor*innen ein Fragment einer Kurzgeschichte zu einem der beiden Themen schreiben. Dann wurde, ohne das Geschriebene offen zu legen, getauscht; der Filialleiter schrieb die Geschichte rattus rattus‘ weiter, rattus rattus die des Filialleiters. Einzige geteilte Informationen waren das Auftauchen neuer Charaktere sowie deren ungefähre Person oder Rolle (Zwerg, Mutter, Hund). Angefangene Sätze durften nach dem Ablauf von fünf Minuten beendet werden. Während des Schreibens verständigten sich die Autor*innen auf die Anzahl der „Runden“.
Bemerkenswert ist hier weniger der Inhalt als vielmehr die bewusste Selbstbeschränkung und der genau kalkulierte Einsatz des Zufalls. Dieses Vorgehen erinnert entfernt an die potentielle Literatur, auch wenn rattus und der Filialleiter von einer Wahnsinnstat wie einem leipogrammatischen Roman doch weit entfernt scheinen. Vielmehr ist ihr Vorgehen mit der Übersetzung eines solchen Romans in eine Sprache zu vergleichen, die den betreffenden Buchstaben ohnehin nicht enthält – die Diskrepanz zwischen den einzelnen Textbausteinen wird durch den (wenn auch behutsamen) Informationsaustausch und durch die Zurückhaltung in der Ausgestaltung der Handlung, die Themenwahl durch fast durchgehendes Ignorieren der Themen konterkarriert.
Die Kurzgeschichten scheinen somit als Überwindung selbstgesetzter Regeln, deren Existenz aber eine leichte und dennoch beim Lesen sofort augenfällige Verschiebung bewirken und dem Text so seine ihm eigentümliche Struktur geben.
Der Spektakuläre Realismus schwebt somit zwischen Formalismus und Spontanität, er changiert zwischen konventioneller, ja stilistisch konservativer Sprache und unerwarteten Bildern und Formulierungen. Anders als etwa im magischen Realismus sind die surrealen Elemente nicht klar erkennbar. Vielmehr wird durch leichte Irritationen eine Atmosphäre des Irrealen geschaffen. Durch die Bananalität und Holzbrettabrtigkeit der Story scheint die Existenz eines nicht ganz eigenständigen, aber definitiv distinktiven Referenzsystems; um es ein wenig anders als Wittgenstein zu sagen: wenn rattus rattus und der Filialleiter sprechen könnten, würden wir sie ungefähr so gut verstehen wie Niederbayerisch. Diese Wirkung hebt den Spektakulären Realismus ab und transportiert ihn in atmosphärische Schichten, aus denen er möglicherweise bald wieder fallen wird. Doch wenn er fällt, dann mit Grandeur.
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