„Mein Schreiben ist Paroxysmus“

Interviews mit Gesichtern, Folge 1: Julius von Gertelstein-Wackelzahn

Julius von Gertelstein-Wackelzahn hat vorletzten Montagnachmittag seinen achtundzwanzigsten Haiku-Band mit dem Titel „Kalliope und Kallipygos in der Regenrinne“ beim Epikurus-Taschenbuchverlag veröffentlicht. Dazu gibt es eine von dem renommierten Dichter selbst erstellte ASMR-Begleit-CD. Bei uns lesen Sie das erste exklusive Interview. Doch zunächst wollen wir das Werk für sich selbst sprechen lassen – hier ein kleiner Auszug:

HARZ

Saprophagen tummeln
sichuntereinem Findling
gefunden –
einge mummeltihr
knapp bemmessener Sarkophag
Harz

<<Audio-Transkript>>
*Fingernägel kratzen über eine Schiefertafel*
*Autoreifen quietschen*
Frauenstimme: „Übergriffig“
Frauenstimme: „Üüüberrrr-“
*Erbsen dünsten* Frauenstimme: „-griffig!“
Frauenstimme: „g. G. G!“

IDEE: Hallo Herr von Gertelstein-Wackelzahn. Oder dürfen wir Sie Julius nennen?

G.-W.: Negativ.

IDEE: Nun gut… sodenn, Herr von Gertelstein-Wackelzahn, Sie sind ja mittlerweile deutschlandweit und auch international bekannt für Ihre experimentelle Dichtkunst. Spüren Sie eine Spannung zwischen dieser etablierten Position und der damit einhergehenden Erwartungshaltung, dem Druck, Neues zu schaffen?

G.-W.: Mein Schreiben ist Paroxismus; dem Ideal der Kalogathie ewiglich nachstrebend, rekurriere ich rekursiv auf redundante Paronomasie sowie auf die Rekultivierung disruptiv-antiklimatischer Attizismen. Ich bin – Julius von Gertelstein-Wackelzahn ist – sozusagen der Advocatus Dei der hellenischen Mythologie und Hermeneutik in einem neoeklektizistischen Sinne. Die Einverleibung der dystrophen Dichtung durch dekonstruktivistische Despoten hat ein megalomanes Ausmaß erreicht. Sie zieht ihre Dichtungsringe durch die Drainage der deutschen Dramaturgie, aber auch der Darstellungsepik bis in den innersten Wesenskern der Dermatologie. Derartig kleingeistige Klempner, katalektische Klötze und ihre katastrophale Katachresis, konsternieren mich zutiefst. Ihre Konzeptlosigkeit muss kontrakonzipiert werden.

IDEE: Dann finden Sie die Inspiration für Ihr Schaffen also in der Empörung über die Uninspiriertheit der Werke Ihrer Gegendenker… heißt das, Sie lesen auch gelegentlich Schnurtzling?

G.-W.: Ohne in contumatiam judizieren zu wollen, Haypf Schnurtzling gleicht einer opportunistischen Opuntie im Lande, in dem die Feigen faulen. Assez dit.

IDEE: Oh, oké-

G.-W.: Seine verschlissenen Verse sind lediglich zur Lazeration tauglich.

IDEE: Nun-

G.-W.: Doch frei nach Hegel; es ist töricht zu wähnen, irgendein Poet gehe über seine gegenwärtige Welt hinaus, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Schnurtzlings antiquierte Obsoleszenz hat sich überlebt. Alsfort, de mortuis nil nisi bene.

IDEE: Diesem Entschluss wollen wir nicht im Wege stehen. Daher eine konkretere Frage zu „Kalliope und Kallipygos“; es ist nicht-

G.-W.: In der Regenrinne.

IDEE: Bitte? Ah richtig. Also-

G.-W.: Die Regenrinne darf nicht unterschlagen werden.

IDEE: Verständlich. … Warum genau?

G.-W.: … *starrt vorwurfsvoll*

IDEE: Es… es ist keine Neuheit, dass Sie Ihre Kunst mithilfe wesensverschiedener Medien begleitend untermalen – sicherlich wird Ihre famose Flatulenz-Performance zu „Antropophage Anomalie“ noch längere Zeit im kulturellen Geruchsgedächtnis der westlichen Welt haften bleiben. Warum dieses Mal also ASMR, was oder wer hat Sie an dieses Medium herangeführt, was fasziniert Sie daran und was macht es kompatibel mit Kalliope und Kallipygos? In der Regenrinne?

G.-W.: Ich sehe ASMR, also die autonom-sensorische Meridian-Rückmeldung, als synästhetisches Zirkulärsystem, um die Fragmentierung und Hybridisierung der Populärkultur zu unterminieren und den materiellen Thelematismus der individualistischen Kettensägengesellschaft zu demystifizieren. In jener Gesellschaft wird die Realitätstiefenschärfe substituiert durch die inflationäre Granularität der audiovisuellen Scheinwirklichkeit, die in ihrer Unterkomplexität weder legitim noch plausiblerweise unter Kunst zu subsumieren ist.

IDEE: Messerscharf analysiert. Um uns nicht zu weit von jener scharfen Wirklichkeit zu entfernen und in fragmentaler Überinterpretation zu verlieren, wollen wir das Interview mit einer ganz konkreten, banalen, menschlichen Frage abschließen; was haben Sie heute gefrühstückt, und hat es Ihnen geschmeckt?

G.-W.: Ich pflege in der Norm nicht zu frühstücken, doch im Zuge einer abermaligen Autogrammstunde bei einem lokalen Lesezirkel wurden mir Kaffee und Süßspeisen kredenzt.

IDEE: … und mundete das lukullische Mahl?

G.-W.: Lassen Sie mich Nietzsche zitieren: „Gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsere Tischnachbarschaft entsteht, – den N a c h t i s c h – E k e l“.

IDEE: Unser Beileid. Vielen Dank, dass Sie dennoch willens waren, den Termin mit uns wahrzunehmen.

Für Sie, liebe Leser, haben wir nach diesem informativen aber möglicherweise schwer verdaulichen Einblick in die Gedankenwelt eines wahren Gedicht-Giganten nochmals einen appetiterregenden Auszug aus dem frisch erschienenen Taschenbuch angerichtet.

KOKKELSKÖRNER
der königliche häscher
seine köcher und

käscher
seine köhler
könig amenophes kocht fische
geköderte körper
der könig fischt
kohlsuppe
die kohlsuppe köchelt

<<Audio-Transkript>>
„In Gebieten nach Absatz 1“
„kann kommunales Abwasser“
„aus“
„Gemeinden von“
*Taube gurrt* „bis 150.000 EW“
„das in Küsten“
„Gewässer eingeleitet wird“
„unter folgenden“
„Voraussetzungen“ *Mikrowelle piepst*

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