Nichts

„Zufall“, sagte Riegelsprenger, „ist nur die Summe der Zusammenhänge, die ihr nicht versteht oder nicht anerkennen wollt.“

Das schien der jungen Frau unangenehm zu sein. Ganz kurz sah sie auf, dann gleich wieder zu Boden. Der Boden war grau und synthetisch. Zwischen ihren Füßen und der Tür hatte sich ein Kaugummi in der Form eines Pantoffeltierchens festgetreten.

Riegelsprenger lächelte ihr beruhigend zu.

„Determination? Nein, das ist ein Denkfehler. Jedes Ereignis hat Konsequenzen, aber ob es eintritt, hängt einer Entscheidung ab. Welche Konsequenzen, hängt von allen anderen Ereignissen ab. Und welche Entscheidungen, hängt wiederum an anderen Ereignissen und Entscheidungen. Selbst in einer lückenlos von Naturgesetzen geregelten Galaxis ist nichts vorherbestimmt …“

Die Frau starrte weiter zu Boden.

„Wie wir Entscheidungen treffen? Nun, wo Kräfte sind, sind auch Gegenkräfte, jede Bewegung kann in unbegrenzt viele verschiedene Richtungen gehen, jede Regel hat Ausnahmen! Wenn wir“ – er bildete mit seinen hohlen Händen eine Kugel, er hob sie ganz nah an sein Gesicht – „die Naturgesetze nur genau genug betrachten, stellen wir fest, dass sie zwar klar sind – unendlich klar und durchsichtig – aber dass die Materie so beschaffen ist, dass fast jeder Fall ein Grenzfall ist. Dort setzt der Wille an!“

Ein junger Mann mit schwarzem, unverhältnismäßig gepflegtem Bart sah mit gespielter Indifferenz auf.

„Und dieser Wille ist frei!“, rief Riegelsprenger begeistert. „Denn da wir das alles verbindende, unendlich feingliedrige Kausalgeflecht nicht, nie, nicht mal ansatzweise erfassen können, können wir die wahren Folgen unseres Handelns nicht in unsere Entscheidungen einbeziehen. Diese Folgen können also nicht unser Handlungsmaßstab sein. Wir können den Maßstab selbst bestimmen!“

Er war fast überwältigt von der Grandiosität der Erkenntnis, von Liebe und zärtlichem Mitgefühl für diesen einfältigen, kurzsichtigen grauen Planeten, und von der Verheißung eines noch unvorhersehbaren Abenteuers mit ihm als überlegenem Helden, ihm als allesentscheidend Intervenierendem, ihm in der Hauptrolle.

Er wollte etwas Beruhigendes und Bedeutsames sagen, etwas Feierliches, das sie auf seine Seite ziehen sollte, aber es fiel ihm nichts ein. Also machte er eine aufmunternde, ausholende Geste mit dem Arm.

Die Frau rückte ein Stück von ihm ab und drehte sich in Richtung Tür. Sie hatte lange dunkle Haare, die ihr ständig vor das Gesicht fielen. Ihre Schuhe waren aus einem weich aussehenden Samtstoff. Sie sah aus, als wäre es ihr in der U-Bahn viel zu hell.

Riegelsprenger ließ den Arm wieder sinken. Diese Leute waren unfassbar kleingeistig, aber selbst das war exotisch, aufreizend. Riegelsprenger konnte kaum stillstehen. Wer hätte gedacht, dass diese Fahrt so aufregend werden würde?

Metallisches Quietschen, die Tür öffneten sich. Riegelsprenger sprang aus dem Wagen und rannte die Treppe hoch.

U Amthorplatz. Riegelsprenger zupfte sein Cape zurecht. Ja, wir schreiben das Jahr 2016, ja, wir befinden uns in Lerbin-im-Moor.

Langsam, als Riegelsprenger zu Atem kam, schoben die Bäume und Häuser sich an die richtigen Stellen. Es war sonnig. Gegenüber gingen zwei Polizisten Streife, in ihren Uniformen idyllisch wie ein Kind mit einem Eis am Stiel. Wer oder was sie wohl wirklich waren? Ob das Flimmern über dem Asphalt an einem heißen Tag ein verräterisches Zeichen dafür war, dass es sich bei allem um eine Simulation handelte? Lebendiges und Lebloses plötzlich auf gleicher Stufe, alles gleichermaßen animiert. Die Aleuyiten hatten dafür ein technisches Hilfsmittel, ein Gerät, das ihnen sagte, ob und wie viele Wirklichkeitsebenen es über ihnen gab.
Nett, dachte Riegelsprenger, nett zu wissen, aber macht es einen Unterschied für meine Zwecke?

Ein Auto fuhr vorbei, eng an seinen Füßen. Es war rot und zittrig wie der Kleinbuchstabe a im Übungsheft einer Grundschülerin, Lineatur 1 mit weißem Rand. Dann waren Auto und Polizisten weg und nichts offensichtlich Aktives mehr zu sehen außer Riegelsprenger und einem dicken Grashüpfer irgendwo auf dem Grünstreifen, wo er unverhältnismäßig laut zirpte.

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Ihm gegenüber stand ein Mann mit kurzer Mütze. Die Mütze war so kurz, dass sie nicht mal beide Ohren bedeckte. Die Spitze des einen Ohrs wurde von dünner schwarzer Wolle in einer leichten, aber unangenehm wirkenden Biegung an den Kopf gedrückt, die des anderen stand ihrem natürlichen Wuchs entsprechend ab. Warum störte ihn das nicht? Die Haare des Mannes hatten fast dieselbe Farbe wie seine Mütze. Sein dunkelschwarzes iPhone steckte in einer hellschwarzen Hülle, nur die darauf herumdiffundierenden Steinchen waren grell bunt, wie Partikel in einem Kaleidoskop. Fliehkraft, Halpern-Streuung, Photonen. Eine Durchsage, sie war unverständlich. Ruckeln unter seinen Füßen, dann ein Ziehen, der Zug blieb stehen.

Er wollte nicht aussteigen, nicht jetzt, wo seine Aufmerksamkeit an einem faszinierenden Detail auf dem iPhone-Bildschirm des Mannes mit der kurzen Mütze hängen geblieben war. Nicht jetzt, wo er auf die aufregende Idee gekommen war, dass jede Pore jedes frustriert im Zug, in sinnlos gewordener Gewohnheit, im eigenen Körper eingesperrten Fahrgasts das Portal zu einer anderen, unbekannten Welt sein könnte. Er wollte jetzt nicht aussteigen.

Er stieg aus.

Die U-Bahn-Station war menschenleer. Auf dem Bahnsteig gegenüber girrte eine floureszierende Taube. Von der dunklen Decke her tropfte es, immer auf dieselbe Stelle. Die kaum erkennbare dunkle Pfütze verwandelte sich in seiner mäandernden Phantasie in eine akustische Gitarre und zurück. In eine Amöbe und weiter, in eine Sofa-Kombination. Eine Möbelküstenlandschaft. Renaturierte Flussläufe. Steinformationen. Rolling hills.

Er stieg die Treppen hoch, um die Ecke, noch mehr Stufen.

Ein anderer Bahnsteig. Dieser hier war mit Mustern aus Schatten bedeckt. Er versuchte, sie zu decodieren, von der Nachricht ausgehend, die er erwartete:

RIEGELSPRENGER DAS UNIVERSUM LIEGT DIR ZU FÜSSEN

Aber er verstand den Code nicht.

Als er nach längerer Zeit aufsah, mussten seine Augen sich erst an die Ferne gewöhnen. Türme ragten in den blassen Himmel wie die abgenagten Rippenknochen eines gewaltigen Tieres. Gebäude, die er noch nie gesehen hatte, die vielleicht noch nicht einmal gebaut waren, ragten auf.

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Dass die U-Bahn knallgelb war, machte ihn nur noch aufgekratzter. Er rückte seine Sonnenbrille zurecht. Mit einem letzten Blick auf die Frau im Waggon, der sich gerade wieder in Bewegung setzte (sie setzte sich jetzt Kopfhörer in die Ohren, erst der linke, dann der rechte, sie hielt den Kopf leicht schief, ihre Haare hingen mit der Schwerkraft und schwangen trotz der Trägheit), lief er los, drehte sich einmal um die eigene Achse, und ging mit federnden, fast schwebenden Schritten in Richtung Ausgang.

Eine weitläufige Kreuzung. In einer Richtung schimmerten weiße Bäume. Er drehte sich ein paar mal um die eigene Achse, um auszuprobieren, ob er die Orientierung verlieren würde. Auf einer Hauswand war ein hohes Bild von einem überlebensgroßen Kind mit einem Elefanten im Arm, aber er sah es nur kurz, bevor es zu Schlieren verwischte und aus seinem Blickfeld verschwand. Dasselbe mit den Bäumen. Den Rest konnte er nicht mal mehr gegenständlich ausmachen, er drehte sich zu schnell. Und als er anhielt, war es, als drehte sein Oberkörper sich weiter, dann nur noch sein Kopf, dann nur noch die Flüssigkeit in seinen Ohren. Die Sicht vor seinen Augen karussellierte. Schließlich blieb sie vor dem Elefanten stehen. Riegelsprenger drehte sich zur Seite, um zu überprüfen, ob die Bäume da waren, wo er sie vermutete. Sie waren nicht da. Das Experiment war geglückt: Sie hatten die Orientierung verloren.

Zufrieden wollte er weitergehen. Im Laufen drehte er sich vorsichtshalber noch ein paar mal.

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Riegelsprenger sah nach unten. Dort wuchs Gras. Jemand ging nah an ihm vorbei und es roch nach Falafel. Riegelsprenger hob einen Fuß; nach einem unvermittelten Flug setzte er ihn neben seinen stummen Bruder, der ihn sehnsüchtig erwartete, und erlaubte beiden, eine Weile stillzustehen. Er schloss die Augen und atmete geruchlose Luft. Über die Straße rauschten aus beiden Richtungen Fahrzeuge. Er war ein Nichts zwischen all diesen Realitäten. „Herrlich“, sagte Riegelsprenger und wiederholte es dann leiser: „herrlich“.

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